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Kommentar: Zum Beschluss Lv 7/22 des saarländischen VerfassungsgerichtshofsDer Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hatte über eine Wahlprüfungsbeschwerde zu entscheiden, die die Einführung einer Ersatzstimme in das Landtagswahlgesetz erzwingen wollte. Sie fußte auf einer Wahlanfechtung, die im Zuge der saarländischen Landtagswahl am In der Folge wurde der ursprüngliche Antrag von den Beschwerdeführern präzisiert bzw. abgeändert und der zwischenzeitlich beauftragte juristische Bevollmächtigte verfasste eine weitere Stellungnahme. Am Das Ergebnis an sich ist keine wirkliche Überraschung. Gerade weil Ersatzstimmensysteme noch nirgendwo im Einsatz sind, scheuen sich Gerichte, den Gesetzgeber zu einem solchen Experiment zu verpflichten. Leider spielt auch das 2017er Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches von unzutreffenden Annahmen ausging, noch immer eine unselige Rolle. Dennoch hätten die Richter und Richterinnen des saarländischen Verfassungsgerichtshofs Möglichkeiten gehabt, die ihnen zur Verfügung stehenden Räume besser zu nutzen. Dies haben sie nicht getan, sondern sind leider einer größeren Zahl von falschen Annahmen und unzulässigen Schlussfolgerungen aufgesessen. Diese Stellen sollen im Folgenden kritisch kommentiert werden. Der Einstieg in die veröffentlichte Entscheidung liest sich zunächst noch hoffnungsfroh, weil die von den Beschwerdeführern vorgetragenen Argumente ausführlich und sachlich zutreffend zusammengefasst worden sind Der Vorwurf, die Beschwerdeführer hätten einen "verdeckten Normenkontrollantrag" gestellt Auch der Vorwurf, die Beschwerdeführer hätten ihren Begründungs- und Substantiierungspflichten möglicherweise nicht Genüge getan, weil sie nicht den Erlass einer bestimmten Regelung eingefordert hätten Gleich der erste und offenbar zentrale Satz, mit dem die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen wird, lautet Der nachfolgende Abschnitt Auf Seite 19 f. erklären die Verfassungsrichter, sie wären für die Überprüfung etwaiger Verstöße gegen das Grundgesetz nicht zuständig, weil sie einzig und allein Verstöße gegen die Landesverfassung zu prüfen hätten - eine zumindest diskussionswürdige Position. Dem Gericht genügt schon, dass der Landtag überhaupt eine Evaluation durchgeführt hat (S. 23). Sie stellen dabei allein auf äußere Merkmale ab wie z.B. die Hinzuziehung von Sachverständigen und die Verabschiedung bzw. Veröffentlichung des Berichts, ohne jedoch dessen inhaltliche Qualität näher zu untersuchen. Es kann jedoch nicht Sinn der Übung gewesen sein, wenn der damals erteilte Prüfungsauftrag auch durch eine bloße Pro-Forma-Leistung hätte eingelöst werden können bzw. lediglich eine Art Beschäftigungstherapie dargestellt hätte. Die Tatsache, dass bei der in Frage stehenden Landtagswahl mehr als Diese Position bedeutet letztlich nichts anderes, als dass das Gericht es der freien Beurteilung des - beim Wahlrecht stets von Eigeninteressen geleiteten - Gesetzgebers überlassen will, wann denn ein "wesentlicher" Anteil von Wählerstimmen betroffen ist. Da aber innerhalb eines 10-Jahres-Zeitraums (der für das schnelllebige politische Geschäft bereits eine gefühlte Ewigkeit darstellt) überhaupt nur zwei oder drei relevante Ereignisse stattfinden, ist es gänzlich ausgeschlossen, dass für diese Ereignisse eine statistisch signifkante Prognose ermittelt werden kann. Die Haltung des Gerichts würde somit de facto in einem Freibrief für den Gesetzgeber enden. Man hätte jedoch sehr wohl eine größere statistische Basis schaffen können, indem man die Ergebnisse der übrigen Landtagswahlen in Deutschland, die sich sicherlich nicht systematisch von den Ergebnissen im Saarland unterscheiden, herangezogen hätte. Die Beschwerdeführer hatten explizit auf den bundesweiten Trend verwiesen, dass der Anteil jener Stimmen, die bei der Sitzverteilung unter den Tisch fallen, seit den 1970er Jahren stetig am Steigen ist. Der Gerichtshof ist darauf leider mit keinem Wort eingegangen. Auf S. 26 f. bringt der Gerichtshof das einigermaßen kurios klingende Argument, dass im Falle einer Abschaffung der Sperrklausel (die von den Beschwerdeführern nebenbei gesagt nie gefordert wurde) "eine handlungsfähige Landesregierung nur unter Bildung einer Koalition und unter Eingehung von Kompromissen [hätte] gebildet werden können". Was für eine Zumutung für die saarländische Politik, wo - als absoluter Sonderfall unter allen anderen Bundesländern - aktuell eine Ein-Parteien-Regierung an der Macht ist. Dass die Sperrklausel in ihrer konkreten Form "die in Art. 63 Abs. 1 SVerf normierten Wahlrechtsgrundsätze offensichtlich nicht in verfassungswidriger Weise einschränken" würde, wird zwar postuliert Der auf S. 29 zu findende Satz: "Die Wahlgleichheit soll zwar grundsätzlich gleiche rechtliche Erfolgschancen für die Stimmen aller Wahlberechtigen gewährleisten (…). Hieraus folgt aber nicht die Notwendigkeit, Bedingungen dafür zu schaffen, dass eine abgegebene Stimme mit Sicherheit zur Zuteilung eines Mandats führen wird" ist für sich genommen nicht falsch, beweist aber nichts; vielmehr wirkt er durch die Verwendung der Wörtchen "zwar" und "aber" und den dadurch hergestellten Sinnzusammenhang zwischen beiden Satzteilen suggestiv-manipulativ. Denn es geht nicht um einen sicheren Erfolgswert aller Stimmen; ein solcher ist niemals erreichbar. Richtig wäre die Formulierung "mit möglichst großer Sicherheit" gewesen... dann aber hätten die Schlussfolgerungen, die das Gericht aus der Aussage gezogen hat, nicht mehr aufrechterhalten werden können. Auf S. 30 werden Entscheidungen anderer Verfassungsgerichte zur Ersatzstimme herangezogen, die teilweise hanebüchen sind und jeglicher Logik entbehren. Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür ist die 1-Satz-Begründung des LVerfG Schleswig-Holstein von 2013 Der Hinweis des Gerichts, es könne Stichwahlen nur bei Personenwahlen zur Besetzung einer einzelnen Position geben und nicht bei Wahlen von Parteilisten Unzutreffend ist auch die Formulierung Dass eine Unmittelbarkeit der Wahl nicht gegeben sein soll, wenn die Entscheidung der Wähler nicht "bedingungsfrei" ist Dass einer Ersatzstimme nicht die gleiche Integrationskraft wie der Hauptstimme zukommen soll und dass "einem solchermaßen zustandegekommenen Wahlergebnis immer der Makel [anhefte], dass es nicht dem eigentlichen, wahren Wählerwillen entspräche" Auch der folgende Satz auf Auf S. 34 f. geht das Gericht fälschlicherweise davon aus, dass vor der Erfassung der Ersatzstimmen die Auszählung der Hauptstimmen abgeschlossen sein müsste. Für diese (Minder-)Meinung werden Literaturquellen angeführt, nicht aber für die von anderen Experten vertretene Gegenposition. Ähnliches passiert leider an vielen weiteren Stellen der Begründung. Auch der folgenden Schlussfolgerung des Gerichts muss man zumindest in dieser Pauschalität nicht zustimmen: "Es liegt auf der Hand, dass ein solches Verfahren intransparent und fehleranfällig wäre - zwei gravierende Mängel, welche deutlich schwerer wiegen als der vermeintliche Mehrgewinn an Erfolgswertgleichheit" (S. 35). Ein paar Sätze später wird noch mal wiederholt, dass Ersatzstimmensysteme "aufgrund ihrer Komplexität und Fehleranfälligkeit als kaum praktikabel [erscheinen]". Die Erfahrungen derjenigen Länder, die schon seit Jahrzehnten erfolgreich Rangwahlverfahren einsetzen, lehren etwas anderes. Ein Satz später kommt dann noch eine halbwegs versöhnliche Schlussnote: "Es ist dem Gesetzgeber vorbehalten, die mit den vorgeschlagenen Möglichkeiten verbundenen Vor- und vor allem Nachteile gegeneinander abzuwägen und danach zu entscheiden, ob Alles in allem ist diese Entscheidung eine verpasste Chance, dem Ersatzstimmenmodell mit seinen vielfältigen Vorteilen und großen Potentialen eine faire verfassungsrechtliche Beurteilung zukommen zu lassen. Man gewinnt den Eindruck, dass der Verfassungsgerichtshof sich nicht wirklich mit den Feinheiten der Argumentation auseinandersetzen wollte, sondern sich für den leichtesten Weg entschieden hat. Doch wenn noch nicht einmal eine Wahl, bei der fast ein Viertel aller Stimmen beim entscheidenden Vorgang der Mandatsverteilung unter den Tisch gefallen sind, für ein Innehalten und ein kritisches Hinterfragen der Legitimität der wahlrechtlichen Instrumente sorgen kann... dann darf man auf absehbare Zeit wohl wenig Hoffnung darein setzen, dass die Gerichte das Grundgesetz und die Verfassungen der Länder gegen den politischen Status quo und die nimmersatten Machtansprüche der herrschenden Parteien zu verteidigen bereit sind. Björn Benken |
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